Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)/Krankheitsbedingte Kündigung/von Rechtsanwalt/Arbeitsrecht/Darmstadt

Begriff

Das betriebliche Eingliederungsmanagement (im folgenden: BEM) ist in § 84 Abs. 2 SGB IX geregelt und gilt nicht nur für Schwerbehinderte.
Nach der Vorschrift haben der Arbeitgeber und die betriebliche Interessenvertretung (also Betriebsrat, Personalrat, etc., aber auch im kirchlichen Bereich eine Mitarbeitervertretung) mit einer evtl. vorhandenen und zuständigen Schwerbehindertenvertretung die Pflicht, bei Beschäftigten, die innerhalb eines Jahrs mehr als 6 Wochen krankheitsbedingt fehlen, präventive Maßnahmen (sog. "betriebliches Eingliederungsmanagement") durchzuführen mit dem Ziel, künftig die krankheitsbedingten Fehlzeiten zu reduzieren (Überwindung bestehender und/oder Verhinderung weiterer Arbeitsunfähigkeit, Erhalt des Arbeitsplatzes, leidensgerechte Sicherung der Beschäftigung gesundheitlich angeschlagener Menschen, Vorbeugung in Bezug auf Gefahren des Eintritts von (Schwer-)Behinderung und/oder Erwerbsunfähigkeit).

Hintergrund der Vorschrift ist der Erhalt des Arbeitsplatzes und die Entlastung der Krankenkassen.

Voraussetzungen

Die Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements ist für den Arbeitgeber und die betriebliche Interessenvertretung (Betriebs-/Personalräte etc., vgl. § 93 SGB IX, aber auch Mitarbeitervertretungen, s. u.) gesetzliche Pflicht. Allerdings ist die Verletzung dieser Pflicht nicht unmittelbar sanktioniert, weshalb ein gewisser Spielraum zur Entscheidung besteht, ob und zu welchem Zeitpunkt das betriebliche Eingliederungsmanagement durchgeführt werden soll.

Die Pflicht zum BEM setzt ein, sobald die zeitliche Grenze von 6 Wochen Arbeitsunfähigkeit überschritten ist. Der Betrachtungszeitraum ist ein Jahr (nicht Kalenderjahr).
Unerheblich ist, ob eine zusammenhängende Arbeitsunfähigkeit oder mehrere Arbeitsunfähigkeitszeiten vorliegen.

Nach § 84 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist Gesprächspartner des Arbeitgebers die Interessenvertretung, während der betroffene Beschäftigte nur hinzugezogen und beteiligt wird. Wer Interessenvertretung im Sinne der Vorschrift ist, wird in § 93 SGB IX definiert. Hierunter fallen vor allen Dingen Betriebs- und Personalräte (Betriebsrat). Allerdings ist auch bei Fehlen einer Interessenvertretung das Verfahren durchzuführen.

Unabdingbare Voraussetzung für die Durchführung ist die vorherige Zustimmung des Beschäftigten (§ 84 Abs. 2 S. 1 SGB IX). Diese hat der Arbeitgeber vom Beschäftigten nach Information über die verwendeten Daten und Ziele des BEM einzuholen. Die Zustimmung kann formlos erklärt werden.
Verweigert der Beschäftigte die Zustimmung, darf das Verfahren nicht begonnen bzw. weitergeführt werden. Der Arbeitgeber hat dann seine Pflicht erfüllt.

Ablauf des BEM

Der Ablauf des BEM ist nur teilweise geregelt und bietet deshalb Freiraum für eine betriebsspezifische Regelung. Folgendes sollte beachtet werden:

Gesprächspartner sind Arbeitgeber, Interessenvertretung, Betroffener und ggf. die Schwerbehindertenvertretung.

Zunächst sollten der Gesundheitszustand des Beschäftigten und evtl. mögliche Hilfsangebote im Vordergrund stehen. Der Hinweis auf die Gefährdung des Arbeitsverhältnisses durch Fehlzeiten ist zulässig, um dem Arbeitnehmer deutlich zu machen, dass aktive Mitarbeit im Eingliederungsmanagement in seinem eigenen Interesse ist. Mit dem Betroffenen sollte eine Vereinbarung über das weitere Vorgehen getroffen werden, die die Grundlage für die weiteren Gespräche bildet.

Der Inhalt und die Zielrichtung des BEM werden sich im weiteren Verlauf danach unterscheiden, ob es sich um einen langzeiterkrankten Beschäftigten handelt oder ob häufige Kurzerkrankungen im Vordergrund stehen.
Bei Ersterem stellt sich die Frage nach dem aktuellen Gesundheitszustand und die Aussicht auf baldige Genesung, aber auch die Frage, ob die Einsatzfähigkeit des Beschäftigten voll wieder hergestellt oder eingeschränkt sein wird und wie sich Einschränkungen auf die weitere Arbeit auswirken werden.
Bei häufigen Kurzerkrankungen steht die Frage nach deren Ursachen im Vordergrund. Betriebliche Ursachen sind zu besprechen, aber auch die persönlichen Lebensumstände des Beschäftigten.

Nach einer Analyse der Ursachen der Erkrankung muss dann dazu übergegangen werden, Hilfsmöglichkeiten für den Beschäftigten zu erkunden. Hier kommt auch als wichtige Maßnahme im Rahmen des BEM die stufenweise Wiedereingliederung in Betracht (§ 74 SGB V; § 28 SGB IX).

Das BEM ist erst abgeschlossen, wenn die Fehlzeiten dauerhaft unter die Sechswochengrenze des § 84 Abs. 2 S. 1 SGB IX gesunken sind (oder das Beschäftigungsverhältnis endet).
Eine Grenze ist allerdings da erreicht, wo auch nach Ansicht kompetenter Berater wie dem Integrationsamt oder der Servicestelle keine Möglichkeiten zur Wiedereingliederung des Arbeitnehmers in das Arbeitsverhältnis oder zur Fehlzeitenreduzierung bestehen.

Folgen eines unterlassenen BEM

Ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Durchführung des BEM ist nicht im Ordnungswidrigkeitenkatalog des § 156 SGB IX aufgeführt, sodass er ohne staatliche Sanktionen bleibt.

Findet das Kündigungsschutzgesetz auf das Arbeitsverhältnis keine Anwendung, führt das unterlassene BEM nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.Bei Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes kann sich die Unterlassung jedoch auf die Wirksamkeit der krankheitsbedingten Kündigung auswirken:

Die Durchführung ist zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung.Es kann jedoch ein Verstoß gegen das "ultima-ratio-Prinzip" vorliegen, der die Kündigung unwirksam macht. Nach diesem allgemeinen Grundsatz des Kündigungsrechts, ist die Kündigung immer nur nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten als letztes Mittel zulässig. Deshalb ist vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch eine krankheitsbedingte Kündigung grundsätzlich das BEM durchzuführen.

Eine Ausnahme kann nur gelten, wenn von vornherein feststeht, dass für den Arbeitnehmer im Betrieb keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr besteht. Für die Beweislastverteilung im Kündigungsschutzprozess gilt: Die Einhaltung der Vorschrift hat der Arbeitgeber nachzuweisen. Lässt sich nicht klären, ob und in welchem Umfang die rechtzeitige Durchführung des BEM die Kündigung vermieden hätte, wird man dem Arbeitgeber die Beweislast aufbürden müssen, weil er gegen die Vorschrift verstoßen hat. Also wird der Arbeitgeber darzulegen und zu beweisen haben (§ 1 Abs. 2 S. 4 KSchG), dass auch bei Durchführung eines Verfahrens nach § 84 SGB IX die Kündigung unvermeidbar gewesen wäre.
So kann sich der Arbeitgeber nicht pauschal darauf berufen, ein leidensgerechter Arbeitsplatz stehe nicht zur Verfügung, sondern er muss dies ganz konkret vortragen und beweisen.
Im Hinblick auf die Bedeutung des durchgeführten BEM für einen Kündigungsschutzprozess ist es wichtig, das gesamte Verfahren und die ergriffenen Maßnahmen und Vereinbarungen zu dokumentieren. So ist es sinnvoll, über die Gespräche mit dem Beschäftigten und der Interessenvertretung jeweils ein Protokoll anzufertigen, aber auch die Einschaltung weiterer Stellen schriftlich niederzulegen.

Die grundlegende Rechtsprechung des BAG zum BEM

I. BAG vom 10.12.2009 (2 AZR 400/08):
1.
Die gesetzliche Pflicht des Arbeitgebers zur Durchführung eines BEM hat Auswirkungen auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Kündigungsschutzprozess wegen krankheitsbedingter Kündigung.

2.
Hat der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung kein BEM durchgeführt, hat er von sich aus darzulegen, weshalb denkbare oder vom Arbeitnehmer aufgezeigte Alternativen zu den bestehenden Beschäftigungsbedingungen mit der Aussicht auf eine Reduzierung der Ausfallzeiten nicht in Betracht kommen. Das gleiche gilt, wenn ein Verfahren durchgeführt wurde, dass nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen an ein BEM genügt.

3.
Hat das ordnungsgemäß durchgeführte BEM zu einem negativen Ergebnis geführt, genügt der Arbeitgeber seiner Darlegungslast, wenn er auf diesen Umstand hinweist und vorträgt, es bestünden keine anderen Beschäftigungsmöglichkeiten. Es ist Sache des Arbeitnehmers im einzelnen darzutun, dass es entgegen des Ergebnisses des BEM weitere Alternativen gebe, die entweder während des BEM trotz ihrer Erwähnung nicht behandelt worden seien oder sich erst nach dessen Abschluss ergeben hätten.

4.
Hat ein BEM stattgefunden und zu einem positiven Ergebnis geführt, ist der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet, die betreffende Empfehlung umzusetzen.
Kündigt er das Arbeitsverhältnis, ohne diese Umsetzung zumindest versucht zu haben, muss der Arbeitgeber von sich aus darlegen, warum die empfohlene Maßnahme entweder undurchführbar war oder selbst bei einer Umsetzung nicht zu einer Reduzierung der Ausfallzeiten geführt hätte.

5.
Bedarf es zur Umsetzung der Empfehlung einer Einwilligung oder Initiative des Arbeitnehmers, kann der Arbeitgeber diesem hierfür eine angemessene Frist setzen.
Bei ergebnislosem Fristablauf ist eine Kündigung nicht wegen Missachtung der Empfehlung unverhältnismäßig, sofern der Arbeitgeber die Kündigung für diesen Fall angedroht hat.

II. BAG vom 30.9.2010 (2 AZR 88/09):

Ein BEM ist (bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen) auch in Betrieben ohne Betriebsrat durchzuführen.



Eingestellt am 23.11.2010 von J. Püchner
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